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Rafaela Weinz, Evensong - Historische Konfigurationen einer liturgischen Form

4. „Musical Renaissance“ in der anglikanischen Kirche

Das bereits angesprochene Problem des fraglichen Umgangs von Musik und Text zu Beginn der Entwicklung des Anglican Chant im 18. Jahrhundert trat nicht isoliert auf. Betrachtet man die Zeit nach der Restauration, so kann man feststellen, dass sich die Interessen der Musiker wie der Menschen veränderte: Die Zeit der Aufklärung hatte auch Auswirkungen auf die Musik der Church of England.

4.1 Allgemeine Probleme der Kirchenmusik des 18. Jahrhunderts

Wie auch im restlichen Europa hatte die Kirche Englands im 18. Jahrhundert gegen die Infragestellung des Glaubens im Allgemeinen zu kämpfen. Das Interesse an der Kirche wich dem Interesse an Prestige und nicht zuletzt Geld. Die Auswirkungen auf die Musik in der Kirche waren verheerend.

Nach dem Tod Purcells im Jahr 1695 kann von einem Einbruch der Qualität der Kirchenmusik gesprochen werden. Wie bereits beschrieben verschob sich das Interesse der Komponisten in der Zeit des Bürgerkriegs und der Restauration in Richtung weltlicher Musik, was sich negativ auf die Kirchenmusik auswirkte. Die Weiterentwicklung des Anthem und der Rückgang der Service-Kompositionen waren erste Veränderungen, die sich im Gottesdienst niederschlugen. Während zu Zeiten Elisabeths der Great Service als Kompositionsform florierte, ging dieser nach der Restauration zurück und wich der Form des Short Service (vgl. [Schaarwächter 1998], S. 212). Letzerer wiederum wurde im Lauf des 18. Jahrhunderts immer kürzer und ließ so mehr Zeit für die immer gewaltiger komponierten Anthems. „Those parts of the office that were performed daily were hurried through as quickly as possible to make way for a moment of relaxion.“ ([Dearnley 1970], S. 107) Das große Interesse am Anthem kann mit zwei Punkten begründet werden. Musikalisch ließ das Anthem mehr Freiheiten, der Text war ebenso wie die Kompositionsform frei wählbar, der Komponist konnte an diesen Werken also seine Kunst beweisen. Zudem war das Anthem, da nicht liturgiebezogen, auch als geistliches Werk im weltlichen Kontext aufführbar, was ihm wesentlich größere Einsatzmöglichkeiten brachte. Im Gegenteil zur Kirchenmusik war das Interesse an weltlicher Musik seit Mitte des 17. Jahrhunderts gestiegen, die mit dem Bau von Opern und Konzerthäusern das kulturelle Leben der Menschen zu bestimmen begonnen hatte. Es kann also keines Falls von einem Verfall der Musik im 18. Jahrhundert gesprochen werden, wie es manche Veröffentlichungen suggerieren. Jedoch hatte sich das Interesse von Musikern und Publikum in Richtung Konzertkultur verschoben. Bestes Beispiel für diese Entwicklung ist das Werk Georg Friedrich Händels (1685-1759), der mit seinen Chor- und Instrumentalwerken große Erfolge genoss. „None of these works [...] is suitable for ordinary cathedral use“ ([Fellowes 1941], S. 192). Neben vielen weltlichen Kompositionen konzentrierte sich Händel auf das Oratorium als neue Form in der geistlichen englischen Musik, welches sich zwar auf religiöse Inhalte bezieht, aber eben nicht zur Verwendung in Gottesdiensten bestimmt waren. Die Form des Anthem nahm im 17. Jahrhundert die Form der Kantate an und weitete sich schließlich durch Einsatz von Orchesterritornellen und Soloarien soweit aus, dass Händel sein „Funeral Anthem for Queen Caroline“ (1737) mit nur wenigen Änderungen im Text als ersten Teil seines Oratoriums „Israel in Egypt“ (1738) verwenden konnte. Das Anthem hatte sich damit zu einer eigenständigen Gattung etabliert, deren Form für die Verwendung im Gottesdienst unbrauchbar geworden war.

Nachdem die Musiker das Interesse an liturgischen Kompositionen verloren hatten, da ihnen mehr Beachtung im Bereich der weltlichen Musik geschenkt wurde, verlor schließlich auch die Kirche das Interesse an guter Kirchenmusik. Die Folge waren Geldkürzungen für die Musik und die Erhaltung der nach der Restauration neu installierten Chöre. Der Chor von St. Paul's Cathedral London wurde im 18. Jahrhundert von 10 auf 8 Stimmen verkleinert (vgl. [Spink 2004 b], S. 394), bedenkt man die großangelegten Kompositionen Byrds, stellt sich die Frage, wie dieser Kathedralchor solche Kompositionen aufführen konnte. Die Antwort ist einfach: gar nicht. Das 18. Jahrhundert brachte, wie keines zuvor, eine große Zahl von Service-Kompositionen im Short-Service-Stil hervor, die - meist vierstimmig - sowohl von den Kathedralchören, wie auch von den Laienchören in den Gemeinden gesungen werden konnten. Auch diese Entwicklung lässt sich wieder positiv und negativ formulieren; die Kompositionen im anspruchsvollen, polyphonen, doppelchörigen Stil gingen nahezu vollständig zurück, dafür gab es erstmals Repertoire auch für Laienchöre, die im 18. Jahrhundert mehr und mehr in den Gemeinden entstanden. Hinzu kam die Verbreitung von Orgeln und kleinen Instrumentalgruppen, die den Chor unterstützten und die einfach gehaltenen Chorstimmen musikalisch erweiterten.

Des weiteren entwickelte sich im 18. und 19. Jahrhundert der Hymnus, der zunächst in den Gemeinden und später auch in den Kathedralkirchen Einzug fand. Während in den Gemeinden stets auch das Volk an der musikalischen Gestaltung Anteil hatte, eröffnete die Form des Hymnus erstmals auch in den Kathedralen die Einbeziehung des Volkes in den musikalischen Lobpreis. Der Hymnus fand einen festen Platz in allen Gottesdiensten der anglikanischen Kirche, allerdings nur als Obligation. Aus diesem Grund soll auf eine nähere Beschreibung der Geschichte des Hymnus an dieser Stelle verzichtet werden1.

Nachdem sich das neue Anthem zu einer eigenen Gattung entwickelt hatte und damit seiner Funktion in der Liturgie nicht mehr nachkommen konnte, fand eine Gegenbewegung statt, die geistliche Kompositionen in die Kirche zurück zu holen versuchte.

Theodore Ayward (1730-1801) first introduced the custom of choosing excerpts from Handel's Messiah and other such works for performance as anthems in the choir of St. George's Chapel, Windsor. ([Fellowes 1941], S. 219)

Das 18. Jahrhundert kann also insgesamt als innovativ bezeichnet werden, auch wenn im Bereich der kathedralen Kirchenmusik während dieser Zeit ein enormer Rückgang an vokalen Kompositionen verzeichnet werden muss. Die spezifisch englische Chortradition litt besonders durch das geweckte Interesse an großen Orchesterwerken und Orgelkompositionen, die bis 1660 nur in geringem Maße zur Aufführung gekommen waren und hatte ihre Legitimation zum Ende des 18. Jahrhunderts nahezu verloren.

4.2 Suche nach neuer Legitimation im 19. Jahrhundert

Auch die Kirche als Institution verlor im 18. und frühen 19. Jahrhundert an Legitimation, die sie sich selbst entzogen hatte: Die Priester und Bischöfe hatten sich mehr und mehr aus ihren liturgischen Aufgaben zurück gezogen, sodass zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Tradition der täglich stattfindenden Services auf ein Minimum reduziert worden war. „Holy Communion was still administered quarterly (if at all) and many country churches were so little used that they became increasingly mouldy and dilapidated.“ ([Long 1972], S. 317) Einzig Mattins und Evensong fanden noch täglich statt und erfuhren damit liturgisch eine Aufwertung, die sich bis heute gehalten hat. Auch konnte sich nur in diesen beiden Gottesdienstformen die Chortradition erhalten, wenn auch stark abgeschwächt. Auf Grund der insgesamt sehr freizügigen Ausübung ihrer Arbeit konnten Bischöfe und Priester die Vorsänger, die in ihrer Funktion zwischen den Priestern und Chören standen, nur schwer davon überzeugen, ihren Dienst zu verrichten, was zu einer extremen Vernachlässigung der Betreuung der Chöre führte. So kam es neben den bereits genannten Kürzungen der Gelder auch zu Verwahrlosung von Kirche und Chor, die nur durch den enormen Einsatz einiger Chorleiter aufgefangen werden konnte. Selbst in der Chapel Royal, die seit dem 15. Jahrhundert immer repräsentative und innovative Funktionen ausgeübt hatte und deren finanzielle Mittel immer ausreichend geflossen waren, „Attwood had to dip his hand into his own pocket to pay for the copying of his anthems“ (a.a.O., S. 321).

Erste Reformbewegungen im 19. Jahrhundert gingen von der so genannten „High Church Party“ aus, deren Anhänger sich dem katholischen Glauben verpflichtet fühlten und die Kirche in die Zeit vor der Reformation zurück führen wollten. Diese in der Zeit zwischen 1833 und 1845 zu datierende Bewegung wird, da sie übermäßig in Oxford debattiert wurde, als Oxford Movement bezeichnet. Während das Oxford Movement zunächst eine Gelehrtenbewegung war, die erstmals die Bibel kritisch zu betrachten versuchte, forderte sie auch die Rückbesinnung auf das BoCP und die darin festgelegten Gottesdienste und wurde durch diese Forderung von einer Gelehrtendebatte zu einer Liturgiebewegung. Das Prinzip des Choral Service gehörte mit zu den Ideen der Reformer, deren erstes Ergebnis im Jahr 1844 die Neuauflage des von Marbecke 1550 geschriebenen Booke of Common Praier Noted darstellt. Ebenfalls wurden lateinische, vorreformatorische Werke, sowie der gregorianische Choral wieder mehr in das Bewusstsein der Musiker zurückgeholt. Während die Kathedralkirchen, die immer eher mit dem katholischen Glauben sympathisiert hatten, sich nur wenig durch das Oxford Movement beirren ließen, war die direkte Folge des Oxford Movement eine ideologische Teilung der Priester und Musiker, die in den Gemeindekirchen tätig waren: die erste Gruppe „wanted to restore to the congregation its full right of active participation in worship“ und die zweite Gruppe „believed that parish churches should aim to archieve something of the glory of cathedral worship.“ ([Long 1972], S. 327) Erstere Gruppe scheiterte bereits früh mit der Idee, Canticles, Psalmen und Responses von der Gemeinde singen zu lassen, und musste bald erkennen, dass auch das Singen der gregorianischen Choräle nicht leichter durchgeführt werden konnte, als das Singen der inzwischen bekannten Anglican Chants (vgl. ebd.). Die zweite Gruppe konnte sich auf Grund der Schwierigkeiten bei der Praktizierung von Gemeindegesang durchsetzen. Die Folge war eine Chorbewegung in den Gemeinden, die bald den Kathedralkirchen in nichts nach stand. Der erste Chor, der in einer Gemeindekirche die Idee des kathedralen Choral Service einführte, war der Chor der „Leeds Parish Church“, der bereits 1815 von Reverend Richard Fawcett gegründet worden war. Unter der Leitung von Dr. Walter Hook wurde 1841 erstmals ein Choral Service praktiziert und sofort verbindlich eingeführt (vgl. [Rainbow 1970], S. 26 f). Der Chor der „Temple Church London“ wurde ein Jahr später gegründet und konnte unter der Leitung von Edward John Hopkins, der als Knabe in der Chapel Royal gesungen hatte, noch im selben Jahr mit hervorragenden Leistungen für die Einführung der Choral Services in Gemeindekirchen werben (vgl. a.a.O., S. 39).

As the choral service gathered strength in parochial churches, the discrepancy between the true image of a choral service and its decayed condition in many cathedrals grew more widely apparent. (a.a.O., S. 255)

Vermutlich kann genau diese neue Entwicklung als Ursache für das Aufblühen auch der kathedralen Chöre in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts formuliert werden. In zahlreichen Predigten und Aufsätzen ist dokumentiert, wie zu dieser Zeit Bischöfe und Priester kathedraler und Gemeindekirchen die Choral Services auch aus liturgischer, religiöser Sicht zu legitimieren versuchten2. Reverend James Cooper versucht in seinem Aufsatz „The importance of Church music. Shown from the principles of nature, the testimony of scripture, and the construction of the liturgy“ aus dem Jahr 18443 die Beteiligung der Gemeinde am Gotteslob wie folgt zu begründen:

Es sei die Pflicht des Menschen, den Lob Gottes zu singen. Erstens, da die natürliche Anlage den Menschen dazu befähige, zu denken, zu schreiben, zu sprechen und zu singen, solle der Mensch auch seine Stimme zum Lob Gottes erheben und ihn preisen. Zweitens könne die Musik die Seele des Menschen auf besondere Weise berühren. Zudem gäbe der Mensch durch Musik wider, was er mit bloßen Worten nicht auszudrücken fähig sei. Da diese Gaben von Gott gegeben seien, sollten sie auch zu dessen Lob verwendet werden. Drittens beschreibe die heilige Schrift den Gebrauch von Musik zum Lob Gottes bereits im alten Testament. Viertens lege die Liturgie der anglikanischen Kirche fest, dass jeder in den Gottesdienst und das Lob einzubinden sei. Daher, so Cooper, solle jeder singen. ([Cooper 1844], S. 7 ff)

Dieser eher auf das gemeinschaftliche Singen ausgerichtete Traktat steht damit im Gegensatz zu der von John Henry Mee veröffentlichten Predigt „The Principle of Choral Worship“ vom 10. August 1890, in der dieser mit ähnlichen Argumenten dazu aufruft, stets die bestmögliche Musik zu präsentieren, um Gott zu ehren.

He [God] requires of us the dedication to His glory of the noblest of our powers. [...] we seem to have arrived at two clear principles of worship: the first, that it must be heart-felt to be worship at all; the second, that in its highest forms it must be of a kind that dedicates to God the highest faculties of man, or, in other words, so far as our present subject is concerned, that involves the employment of elaborate music and trained choirs. ([Mee 1890], S. 5 f)

Er begründet diese Forderung mit der Bibel und der Tradition des Psalmsingens als erste vollständig überlieferte Quelle der Musik monotheistischer Religionen (vgl. a.a.O., S. 8), sowie, wie auch Cooper, mit der Liturgie der anglikanischen Kirche, die seit 1662 für den Vortrag der Texte des BoCP die Möglichkeit des Sprechens oder Singens vorschlägt (vgl. a.a.O., S. 7). Ein weiteres, umfangreicheres Beispiel ist das Buch „The Choral Service of the United Church of England and Ireland, being an enquiry into the Liturgical System of the Cathedral and Collegiate Foundations of the Anglican Communion“, welches 1843 von Reverend Dr. John Jebb veröffentlicht wurde und ausführliche Anweisungen gibt, was bei der Durchführung von Choral Services zu beachten ist.

Neben dem Klerus versuchten auch Musiker, das Aufblühen der Chortradition durch Kompositionen und Aufsätze zu unterstützen. Samuel Sebastian Wesley (1810-1876) ist als herausragendes Beispiel zu nennen. Als Komponist trat er durch seinen „Full Service in E“ hervor, indem er erstmals wieder die Ideen des Great Service aus der Zeit der Tudor-Könige aufzugreifen versuchte. In seinem Traktat „A few Words on Cathedral Music and the Musical System of the Church, with a Plan of Reform“ von 1849 postuliert Wesley unter anderem folgende Bedingungen für eine gute Chorarbeit, die er für alle Chöre der Kathedralkirchen fordert:

1. That every choral foundation should provide for at least twelve choirmen [...]. 2. [...] each choir should have three extra men in reserve [...]. 4. The Cathedral Organist should [...] be a professor of the highest ability [...]. 5. A College should be founded for the training of cathedral musicians [...]. 6. There should be some common fund [...] for the management of the choirboys [...]. 7. Every cathedral should have its own full-time music copyist. ([Long 1972], S. 322 f)

Sieben Jahre später wurde von Reverend Sir Ouseley nach Wesleys Plan das „College of St. Michael at Tenbury“ gegründet, welches die erste „Choral fundation“ seit der Reformation darstellt (vgl. a.a.O., S. 324). Westminster Abbey London eröffnete 1848 eine Chorschule, für die 1891 ein separates Haus gebaut und auch die Orgel wieder instand gesetzt wurde. Frederick Bridge hatte großen Anteil daran, dass in den 90er Jahren dank regelmäßiger Chorproben die täglichen Choral Services wieder eingeführt werden konnten (vgl. [Carpenter 1966], S. 430), auch wenn diese zunächst nur aus Mattins und Evensong bestanden. Auch St. Paul's Cathedral London konnte seinen Chor wieder herstellen. Im Januar 1873 wurden zwölf Knaben und acht Männer für den Chor neu verpflichtet, zwei Jahre später zählte der Chor schon vierzig Mitglieder (vgl. [Storey 2004], S. 406). Für die Wiedereinführung der gesungenen Abendmahlfeiern war Sir John Stainer (1840-1901) verantwortlich, durch sein Wirken wurde „St. Paul's Choir School a model for all other cathedral choir schools in the country“ ([Long 1972], S. 325).

Wie in diesen genannten Beispielen konnten in vielen Kathedralen Englands die Chöre wieder motiviert und damit die seit etwa einem Jahrhundert brach liegende Chortradition wiederbelebt werden. Die Entwicklungen des 19. Jahrhunderts sind damit maßgeblich für der heute so selbstverständlich scheinende Chortätigkeit in Englands Kathedralen und Gemeindekirchen verantwortlich und führen um 1880 zur „Musical Renaissance“.

4.3 „Musical Renaissance“ - Alte Formen mit neuem Inhalt

Die englische Musikgeschichte hat sich, wie an vielen Stellen deutlich wird, immer ähnlich der Musikgeschichte auf dem Festland entwickelt, jedoch stets zeitversetzt. Durch die ständigen Unterbrechungen kirchenmusikalischer Entwicklungen im 16. und 17. Jahrhundert hatte die Musik sich zunächst zu stabilisieren, bevor sie sich weiter verändern konnte. So spricht man vom englischen Barock erst für die Zeit nach der Restauration ab 1660, obwohl auch die Musik Byrds und Gibbons bereits barocke Züge enthält. Ähnliches kann auch im späten 19. Jahrhundert beobachtet werden. Wie auch auf dem Festland im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts die Musik Bachs wiederentdeckt wird, erfährt die englische Musik im letzten Drittel des Jahrhunderts eine Renaissance, in der die Musik der frühanglikanischen Kirche und deren Ideen wieder ins Bewusstsein der Musiker treten. Bedingung für diese Entwicklung war das langsame Aufblühen der Chortradition sowie die stetige Wiedereinführung der Choral Services und der gesungenen Abendmahlfeiern, die erstmals wieder das Aufführen der alten Werke im liturgischen Kontext ermöglichten. Spätestens seit dem Besuch Felix Mendelssohn Bartholdys (1809-1847) auf den britischen Inseln (zehn Besuche in der Zeit zwischen 1829 und 1847) war dieser für die englischen Musiker eine Leitfigur. Seine Werke wurden zunächst studiert und nachgeahmt, bevor man erstmals die Musik der eigenen alten Meister wieder zu entdecken begann. Samuel Sebastian Wesley war einer der ersten Komponisten, die die Form des Great Service wieder aufnahmen. Jedoch, wie auch Mendelssohn die Form des barocken Oratoriums übernahm und der Musik der Zeit anpasste, komponierte Wesley nicht im alten Stil:

It becomes clear that Wesley has reverted to the sixteenth- and seventeenth-century concept of a 'Great' Service, bringing to the old form the new harmonic concepts of nineteenth-century Romanticism and adding a fairly elaborate independent organ accompniment. ([Long 1972], S. 344 f)

Die Werke der „Musical Renaissance“ zeichnen sich - sowohl in religiösen wie weltlichen Kompositionen - durch die Kopplung der Musik mehrerer Jahrhunderte aus. Die Form der Service- und Anthem-Kompositionen des 16. Jahrhunderts wurden mit romantischen Melodien und Harmonien verknüpft. Neben Wesley, der den Anfang dieser neuen Entwicklung schuf, wird die Bewegung maßgeblich von drei weiteren Musikern getragen: Sir Hubert Parry (1848-1918) konnte sich besonders durch seine Aktivitäten im Bereich der Chorarbeit einen Namen machen. Er komponierte große Werke für Chor und Orchester, die hauptsächlich für Festivals oder besondere Ereignisse geschrieben wurden (vgl. a.a.O., S. 369). Charles Wood (1866-1926) war im Gegensatz zu Parry eher auf dem Gebiet der Kirchenmusik tätig und komponierte unter Einbezug des gregorianischen Chorals etwa 26 Service-Kompositionen, darunter 20 Kompositionen für Evensong und etwa 30 Anthems (vgl. a.a.O., S. 377). Der dritte Komponist konnte sich auf dem Bereich der Sinfonie und Oper ebenso wie der Kirchenmusik und des Oratoriums einen Namen machen und brachte diese Gattungen in seinen Kompositionen zusammen: Sir Charles Villiers Stanford (1852-1924).

4.3.1 Die Musik Charles Villiers Stanfords

Charles Villiers Stanford wurde 1852 als Sohn einer wohlhabenden Protestantenfamilie in Dublin geboren, die ihn früh musikalisch förderte. So lernte er Geige, Klavier, Orgel und Komposition, bevor er 1870 in Cambridge Orgel zu studieren begann. Dort wurde er schon während seiner Frühphase des Studiums als Organist am Trinity College verpflichtet und übernahm im selben Jahr die Stelle des Chorleiters, nachdem sein Vorgänger John Larkin Hopkins gestorben war. In dieser Stellung machte er erste Erfahrungen mit den von Wesley angeprangerten Problemen der Chorarbeit.

When I entered upon my duties, I found that the choice of music was made by the precentor. [...] in my own College Chapel I was absolutely powerless to control or direct the choice of works which were to influence the tastes of hundreds of students. (Stanford, zit. nach [Dibble 1993], S. 130)

Auf Grund seines Auslandsaufenthaltes in Deutschland in den folgenden zwei Jahren konnte Stanford erst nach dieser Zeit aktiv die Chorarbeit beginnen, indem er zunächst mit der Vergrößerung des Chores von zehn auf sechzehn Sänger diesen zu einem singfähigen Ensemble befördern konnte. Weitere drei Jahre später konnte er sechs Sänger verpflichten, sodass der Chor im Jahr 1878 bereits 22 Sänger zählte (vgl. a.a.O., S. 133). Auch wenn Stanford weiterhin nicht entscheiden durfte, welche Werke zur Aufführung kamen, konnte er doch durch Eigenkompositionen neue Maßstäbe für die Musik in der Kapelle setzten. Im Laufe des Jahres 1879 komponierte er sein später wichtigstes Werk für die anglikanische Liturgie: den Service in B-flat op. 10. Diese Komposition besteht aus den Canticles für das Morgengebet, von denen Te Deum und Jubilate am 25. Mai und das Benedictus am 24. August des Jahres erstmals aufgeführt wurden, den Canticles für die Messe bestehend aus Kyrie, Gloria und Credo, die am 10. und 24. August zur Aufführung kamen. und den Canticles für den Evensong, die ebenfalls am 24. August gesungen wurden. Damit wurde an besagtem 24. August des Jahres 1879 das ganze Werk in den Liturgien des Tages vorgetragen, wie es die Intention der Service-Kompositionen der frühanglikanischen Zeit gewesen war. Die Veröffentlichung der Komposition wenige Monate später war so erfolgreich, dass 1885 eine Neuauflage gedruckt werden musste (vgl. a.a.O., S. 135).

Das Werk ist mit Orgelbegleitung vierstimmig gesetzt, die Tradition des antiphonalen Singens wird eingesetzt, aber nur eingeschränkt wie bei Byrds Short Service (vgl. Kap. 3.2.1). Soloverse sucht man in der Komposition vergebens, allerdings werden einige Verse nur von einer Stimme oder dem gesamten Chor unisono gesungen, was dem Kontrast, der bei Verse-Kompositionen entsteht, sehr nahe kommt. In weiten Teilen ist die Komposition homophon gehalten, ihre Orgelbegleitung wirkt unabhängig vom Chorsatz, auch wenn sie an vielen Stellen den Chor stützt. Da es nicht möglich war, diese Komposition für längere Zeit einzusehen oder zu bestellen und daher nur Teile der Komposition vorlagen, muss hier auf eine ausführliche eigene Analyse verzichtet werden. Es soll daher kurz auf die Analyse Kenneth R. Longs verwiesen werden, der folgende Aspekte der Komposition hervorhebt (vgl. [Long 1972], S. 371-373):

Es seien in der Komposition erstmals instrumentale Formen in vokale Kirchenmusik eingesetzt. So sei die aus der Sinfonie bekannte motivisch-thematische Arbeit aufgegriffen, was, so Long, an manchen Stellen zu Problemen bei der Textverteilung führe und nur durch Wiederholung von Textpassagen ausgeglichen werden könne. Auch die Gestalt dieser Motive sei von der Instrumentalmusik beeinflusst, was sich zum Beispiel an großen, ausdrucksvollen Sprüngen zu Beginn einer Phrase oder markanten Rhythmen bemerkbar macht. Neben diesen Einflüssen beziehe sich Stanford in der Komposition aber auch auf alte gregorianische Melodien, die sich in der gesamten Komposition an verschiedenen Stellen finden ließen. Diese und weitere Motive durchziehen die Sätze wie eine Art Leitmotiv (vgl. [Long 1972], S. 374) und geben dem Werk eine besondere Einheit. Der Vergleich mit der Gattung der Sinfonie hinkt keineswegs:

Complete services unified by a single key [...] was common practice in the Anglican Church. Stanford, however, evidently sought to give this overall experience both a much greater sense of coherence and a broader emotional sweep in which the individual canticles could achieve a degree of cumulative impact such as one might enjoy in the performance of a symphony. ([Dibble 1993], S. 142 f)

Diese Intention stützend orchestrierte Stanford das Te Deum für die Krönung von Edward VII im Jahr 1902. Auch diese Bearbeitung wurde begeistert aufgenommen, sodass Stanford sich bestärkt sah, auch die übrigen Sätze zu erweitern, die 1903 in orchestrierter Fassung erschienen (vgl. a.a.O., S. 141).

Neben den Vertonungen der Canticles in A (1880) und in F (1889) erschien 1904 der Service in G op. 81, in dem die Idee des Soloverses wieder zum Einsatz kommt: Das Magnificat beginnt mit einem Solo für Sopran, traditionell von einem Knaben gesungen, welches sich durch den ganzen Satz zieht. Im Gegensatz zu den Verse-Kompositionen der Tudor-Zeit fungiert der Chor wie die Orgel hier als Begleitung des Solisten. In Zusammenhang mit der im Arpeggio spielenden Orgel interpretiert Long den Einsatz des Solosoprans „to portray the Virgin Mary as a young girl rapturously singing to the accompaniment of her own spinning wheel.“ ([Long 1972], S. 374) Die zunächst unwirklich scheinende Behauptung kann durch die Betrachtung der Nunc dimittis-Komposition bestärkt werden, in der Stanford auf gleiche Weise ein Baritonsolo eingebaut hat, durch das Simeon porträtiert werden soll. Die Einheit der Komposition wird zusätzlich zu der Verwendung gregorianischer Melodien durch Verknüpfung der Doxologie-Vertonungen erreicht, deren Motiv zudem das Te Deum eröffnet und am Ende in der Orgelbegleitung das Nunc dimittis abschließt (vgl. ebd.) und die Komposition umrahmt.

Stanfords berühmteste und am häufigsten vorgetragene Komposition ist seine letzte Service-Komposition, der Service in C op. 115 von 1909, die als einzige auch für den Vortrag in Gemeindekirchen geeignet ist. Musikalisch entspricht sie den anderen Kompositionen Stanfords, auch hier lassen sich wieder motivisch-thematische Arbeit oder für die Instrumentalmusik übliche Sequenzen innerhalb eines Satzes finden. Die einzelnen Sätze sind erneut thematisch verknüpft, was auch dem ungeübten Hörer nicht entgeht: Wie im Service in G nutzt Stanford die Doxologie zur Verbindung der Sätze miteinander, indem er diese immer gleich vertont (im Benedictus, Magnificat und Nunc dimittis). In dieser Komposition geht er aber noch einen Schritt weiter und nutzt das Motiv des „Amen“ am Ende der Doxologie auch am Ende der meisten übrigen Sätze (siehe Anhang 3). Nur das Gloria und das Kyrie, von dem es zwei Fassungen gibt (lateinisch und englisch), fallen aus diesem Schema heraus. Aufgefangen wird dieser Bruch jedoch durch einen der Doxologie rhythmisch ähnlichen Anfang des Gloria und durch die vor und nach dem Evangelium vorzutragenden Responses „Glory be to thee, O Lord“ und „Thanks be to thee, O Christ“, die das „Amen“ der Doxologie imitieren (vgl. [Stanford 1909 c], S. 3).

Typisch ist die Vorgabe des ersten Akkords durch die Orgel zu Beginn eines Satzes, der dann vom Chor direkt aufgegriffen wird. Ein Orgelvorspiel, wie es bei Services mit Soloversen üblich ist, gibt es nicht. Das ganze Werk wird chorisch vorgetragen, allerdings imitiert Stanford hier die Soloverse wie auch im Service in B-flat durch solistische Einsätze besonders von Tenor- und Sopranstimmen und durch unisono-Passagen des gesamten Chores, die durch prächtige Mehrstimmigkeit wieder aufgebrochen werden. Stanford nutzt die unisono-Passagen häufig wie eine Art Sprungbrett für einen anschließenden Akkord im forte (vgl. [Stanford 1909], S. 6, Takt 41-42; S. 13, Takt 26, 29; [Stanford 1909 b], S. 4, 10, 11; [Stanford 1909 c], S. 10, 12, u. a.) oder für eine schrittweise Entfernung von dem letzten gemeinsamen Ton (vgl. [Stanford 1909 c], S. 5, 9, 11, 19, u. a.). Insgesamt ist das Werk deutlich einfacher, meist homophon gesetzt, sodass es auch von Laienchören gesungen werden kann. Durch viele Sequenz- und Imitationsphrasen lässt sich das Werk schnell verstehen und somit auch leichter singen, einige Motive werden immer wieder aufgegriffen. Entscheidend ist die starke Orientierung am Text, wie es auch schon bei Byrd zu beobachten war: die Wechsel von unisono oder von einer Stimme gesungenen zu mehrstimmigen Passagen geschieht stets auf dem Anfang eines neuen Textverses. Des weiteren verzichtet Stanford nahezu auf Textwiederholungen. An wenigen Stellen trennt er sich von diesem Prinzip, wiederholt dann aber sinngebende Textabschnitte und nicht - wie etwa in der katholischen Kirchenmusik üblich - nur einzelne Worte. Auch Melismen sind selten. Dadurch bleibt der Text durchweg verständlich. Die ganze Komposition erinnert in ihrer Gestalt an die Short Services der Tudor-Komponisten, hebt sich von diesen aber formal durch die selbständige, sinfonische Orgelbegleitung ab. Harmonische und melodische Analysen könnten die Nähe zur sinfonischen Musik belegen, wie auch der Höreindruck dies schon leisten kann, aber auf eine tiefgehende Analyse soll an dieser Stelle verzichtet werden.

Stanford selbst bezeichnete diesen Service in C als seine beste Komposition auf diesem Gebiet (vgl. [Long 1972], S. 375), vielleicht gerade weil sie durch ihre melodische Einfachheit und die mächtige Orgelbegleitung eine besondere Eleganz und zugleich Kraft versprüht.


1Die Geschichte des Hymnus in England wird in dem Buch „The English Hymn. Its Develpement and Use in Worship“ von Louis Benson ausführlich beschrieben, das bei „John Knox Press“, Virginia (USA) 1962 neu aufgelegt wurde. Der erste Druck stammt aus dem Jahr 1915. Für die Zeit nach 1915 sei auf das bereits zitierte Buch „Church Music in History and Practice“ von Winfred Douglas verwiesen.

2Diese Legitimationsversuche blieben während Reformation aus, da damals die Tradition als Begründung für die Neugliederung der Stundengebete zu reichen schien. Interessanter Weise wird diese Legitimation in Zeiten verloren gegangener Traditionen erst nachgeholt. Heute wird, wenn man nach dem Grund für Choral Services fragt, wieder die Tradition als Begründung angeführt.

3Dieser Aufsatz ist wurde bei der Eröffnung der Church Choral Society und bei einer Versammlung der Church Institution of Bradford gehalten.